Fallstudie: Vampire in verschiedenen Canons – Teil 2 – Anne Rice

Anne Rice und ihre „Vampirchroniken“ gelten im Grunde genommen als Ursprung der meisten heute geschriebenen Vampirromane und sind prägend in ihrem Genre. Wer in seinen Romanen edle, aber in ihren Emotionen sehr menschliche Vampire darstellen will, die sich mehr mit ihren Beziehungen untereinander als mit den Menschen beschäftigen, der könnte sich Anregungen bei Anne Rice holen.
Ihre Vampire unterscheiden sich optisch zwar ebenfalls von den Menschen, sind jedoch bereits unauffälliger als Stokers Geschöpfe:
Auch sie sind sehr bleiche Wesen, deren Adern bei Blutdurst stark hervortreten können, sodass sie dann ein weniger menschliches Äußeres erhalten. Ihre Augen sind oftmals auffällig hell und scheinen zu leuchten – in der Regel gibt es keine braunäugigen Vampire, da die Augen bei der Verwandlung so stark aufhellen, dass sie bernsteinfarben oder golden erscheinen. Eine weitere Auffälligkeit ist, dass ihre Nägel wirken, als bestünden sie aus eingelegtem Glas. Die Fangzähne sind zwar länger und spitzer als bei Menschen, dies merkt ein Beobachter meist allerdings erst, wenn es zu spät ist.
Ansonsten jedoch unterscheiden sie sich nicht von den Menschen und können sich mit Hilfe einer Sonnenbrille oder eines Hutes nahezu perfekt tarnen.

Einige der Fähigkeiten, über die bereits Stokers Vampire verfügten, wurden von Anne Rice aufgegriffen und erweitert, andere fallen gelassen und durch teils völlig andere Fertigkeiten ersetzt.
Einen Teil ihrer Fähigkeiten erlangen Lestat und Konsorten sofort – so sind sie bis auf wenige Ausnahmen von Anfang an in der Lage, Gedanken von Mensch und Mitvampir zu lesen, sich telepathisch zu unterhalten und verfügen über riesige Körperkräfte sowie eine übermenschliche Geschwindigkeit.
Später lernen sie auch, Dinge mit Gedankenkraft zu kontrollieren, zu fliegen und Menschen sowie Vampire nur mit der Kraft ihrer Gedanken zu töten.

Diese Vampire sind nicht leicht zufriedenzustellen und haben neben dem klassischen Blutdurst – den nur menschliches Blut wirklich stillen kann – überwiegend emotionale Bedürfnisse, die sich je nach Individuum stark unterscheiden können. So suchen Einige nach der ewigen Liebe, andere lechzen allgemein nach Gesellschaft oder tun alles, um ihren Daseinszweck zu ergründen und möglichst viel über die Geschichte der eigenen Wesensart zu lernen. Ebenso wie alle Menschen verschieden sind, tragen auch diese Vampire den Stempel der Individualität.

Doch nicht nur das eigene emotionale Innenleben macht den seelisch verwundbaren und oftmals sehr sensiblen Vampiren das untote Dasein schwer – in der Sonne erleiden sie schwere Verbrennungen, die schließlich auch zur endgültigen Vernichtung des Vampirs führen können, wenn danach die Asche verstreut wird. Wesentlich schneller lassen sie sich durch das Feuer töten.
Eine ungewöhnliche Art und Weise, einen Vampir zu vernichten ist, ihm sämtliches Blut zu entziehen – entweder durch Aussaugen, Verbluten lassen oder indem der Vampir eingemauert wird und elendig verdurstet.
Desweiteren kann ein Vampir sterben, wenn er auch dann das Blut eines Menschen trinkt, wenn dessen Herz nicht mehr schlägt. Es heißt, der Vampir würde dann mit dem Menschen zusammen in den Tod gerissen werden. Dies nutzt Claudia in „Interview with the Vampire“, um Lestat mit einer Kombination aus totem Blut und Gift zu töten, was jedoch misslingt.
Je älter und mächtiger der Vampir ist, desto schwerer fällt es, ihn zu vernichten. So versucht Lestat, sich umzubringen, indem er zur Sonne emporfliegt. Zwar erleidet er schwere Verbrennungen, trägt jedoch keine tödlichen Schäden davon und erholt sich innerhalb kürzester Zeit.

Die Herkunft und Entstehung der Vampire wird sehr ausführlich im dritten Band, „The Queen of Damned“ behandelt, weshalb ich mich hier sehr kurz fassen werde – denn dort wird die Geschichte des Konflikts zwischen Pharaonin Akasha und den schamanistischen Zwillingen Maharet und Mekare geschildert.
Nachdem Akasha die Zwillinge misshandelt und einen blutsaugenden Geist über die Maßen gereizt hat, verletzt er sie tödlich und verbindet sich mit ihrer Seele zu einer Einheit – der Vampir wurde geboren.
Da Maharet und Mekare die Verwandlung nicht rückgängig machen können, werden sie zur Strafe getrennt. Sämtliche Vampire aus dem Canon von Anne Rice stammen von Akasha ab. Wird sie vernichtet, müssen auch sie sterben.

Problematisch an ihrem Canon ist lediglich, dass Anne Rice sich nicht immer selbst treu bleibt. So heißt es in den Bänden bis „Memnoch der Teufel“, nach der Verwandlung verlöre der Vampir die Fähigkeit, Geister zu hören und zu sehen – dies gilt für die schamanistischen Schwestern Maharet und Mekare im dritten Band der Reihe.
Dennoch kann Lestat in „Memnoch“ mit dem Geist von Doras Vater sprechen, der ihm seine Tochter anvertraut. In einem anderen Band ist es Claudias Geist, der Jessica den Weg zu ihrem Tagebuch weist, obwohl sie theoretisch ebenfalls die Fähigkeit Geister zu sehen nach ihrer Verwandlung in „Königin der Verdammten“ verloren haben müsste.
Desweiteren ist die Frage, ob Vampire auf herkömmliche Art Geschlechtsverkehr haben können, in den jeweiligen Bänden unterschiedlich behandelt worden. Im Grunde genommen wird er in fast allen Bänden durch den stark sexualisierten Vampirbiss ersetzt – eine Möglichkeit der Vereinigung, die ohne Nacktheit und Geschlechtsorgane auskommt. In „Königin der Verdammten“ gibt es sogar eine explizite Aussage Lestats darüber, dass er nicht mehr in der Lage zu „menschlichem“ Geschlechtsverkehr ist auch wenn die äußeren Merkmale dafür noch vorhanden zu sein scheinen.
Dies ändert sich allmählich, beginnend mit „Nachtmahr“ und Talbots homoerotisch anmutender Verwandlung bis hin zu den teils sehr deutlichen Andeutungen in „Armand“ und folgenden Bänden.

Fazit

Wer sich also von Anne Rice’ sehr vielschichtigem und reichen Canon inspirieren lässt, sollte sich einen klaren Plan darüber machen, was seinen Vampiren möglich und was unmöglich sein soll und sich daran halten. Denn schleichende Änderungen in den Eigenschaften der Wesen fallen aufmerksamen und treuen Fans in der Regel ebenso negativ auf wie den Literaturkritikern, die nur darauf warten, dass der Autor sich eine Blöße gibt.
Die individualistischen, emotionalen Vampire sind gut für Romane und Geschichten geeignet, in denen aus der Sicht des Blutsaugers geschrieben wird.

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Über Katherina Ushachov

Lektoriert, liest alpha, beta, gamma und omega. Administriert Foren, entdeckt beim Schreiben und schafft dabei Trilogien in neun Bänden. Dichtet.
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