Gastartikel: Das Internet ist unser Fakt und unsere Fiktion und vor allem unser langersehntes kollektives Gedächtnis

Heute haben wir ein besonderes Schmankerl für euch: Einen Gastartikel von Mareike Höckendorff, der sich mit dem Internet und seiner Funktion als kollektives Gedächtnis beschäftigt. Mareike ist selbst Bloggerin und betreibt den Literaturblog Lebe lieber literarisch. Für uns ist es eine große Ehre, hier einen Beitrag von ihr zu veröffentlichen, weil….ach, lest selbst! 

Das Internet ist unser Fakt und unsere Fiktion und vor allem unser langersehntes kollektives Gedächtnis

Die Idee eines kollektiven Gedächtnisses ist wohl mindestens so alt wie unsere westliche Philosophie. Wir teilen unsere Grundvorstellungen und Basiserfahrungen darin. Unsere Gehirne spiegeln, was andere Menschen fühlen, weil wir es selbst einmal gefühlt haben und es so in unser kollektives Gedächtnis eingedrungen ist. Ja, nicht nur unsere tatsächlichen Erfahrungen, auch die möglichen sind darin abgespeichert, nicht nur unsere reale Welt, sondern auch unsere fiktiven Welten, die an denen wir gern teilnehmen würden und die es vielleicht irgendwo in einem möglichen Paralleluniversum geben könnte. Warum ich glaube, dass das Internet die Manifestation dieser utopisch klingenden Idee ist, erfährst du hier (aber dazu später mehr).

Das kollektive Gedächtnis als mögliche Welt der Ideen und Gefühle

Ich bin das erste Mal über den Gedanken des kollektiven Gedächtnisses gestolpert, als ich einen ziemlich abgefahrenen Kriminalroman von Adam Fawer gelesen habe. Es ging darin um einen vermeintlichen Epileptiker, der während seiner Anfälle immer merkwürdige Visionen hatte. Als diese immer klarer wurden, wurde er von einem Geheimdienst verfolgt und in einer actiongeladenen Flucht von einem unabhängigen Wissenschaftler gerettet. Jedenfalls, soweit ich mich erinnere.

Natürlich waren seine Visionen keine wirklichen Visionen, sondern ein direkter Draht zum kollektiven Gedächtnis der Menschheit. Er konnte während seiner Anfälle sehen, was alle Menschen dieser Erde zu allen Zeiten so denken und gedacht haben. Was er sah, stank gewaltig nach Kanalgerüchen (ich stelle mir vor, welchen Spaß der Autor an diesem Detail seiner fiktiven Welt hatte).

Wenn wir wie der Protagonist aus Fawers Roman jederzeit Zugriff auf das hätten, was alle anderen Menschen fühlen, denken und wissen, was sie sich ausdenken und was sie tatsächlich machen, so wäre das fast schon so großartig wie die Weltformel in Händen zu halten. Jemand, der so etwas könnte, dem wäre es auch möglich jederzeit von allen Erfahrungen der Menschheit zu profitieren und immer auf das gesammelte Weltwissen zurückzugreifen.

Platons Welt der Ideen

Ja, aber tun wir das nicht sowieso immer? Sind es denn nicht die Urerfahrungen der Menschheit, die uns Gefühle in Angst, Mut, Hoffnung, Liebe usw. unterteilen lassen? Ist die Entwicklung der Menschheit nicht eine riesige Fortschrittsgeschichte, in der wir Zwerge uns auf die Schultern vergangener Riesen stellen, um mehr Weitblick zu haben? Der alte Platon würde uns sicher zustimmen. Schließlich entspinnt sich in seinem Höhlengleichnis eine Welt genau solcher prototypischen Ideen, die uns auch ein dreibeiniges Pferd als solches Kategorisieren lassen, wenn es genügend andere Merkmale eines Idealpferdes aufweist.

Ein Hoch auf die Technik

Aber Ideen, Gefühle und Gedanken sind so flüchtig. Wie sollen wir jederzeit auf sie zugreifen, wenn sie im nächsten Moment wieder dahin verschwinden können, wo sie herkamen? Nun, neueste Technologie macht es möglich. Wenn wir zu jederzeit überall in Echtzeit festhalten können, wie es uns gerade geht und was wir gerade denken und tun, und wenn alle anderen zu jederzeit darauf zugreifen können, dann haben wir doch unser kollektives Gedächtnis endlich festgehalten, oder? Dann haben wir doch endlich die Weltformel und den Schlüssel zur Menschheit geborgen.

Die totale Vernetzung

Warum erzähle ich euch das Alles eigentlich? Nun, es gibt für mich dafür zwei Anlässe. Zunächst lese ich gerade wieder einen Roman, der sich auf spannende Weise mit der Kopplung der Ideen des kollektiven Gedächtnisses und der Vernetzung des Internets auseinandersetzt, zum Anderen haben wir gerade einen Abhörskandal, dessen Ausmaße wohl höchstens schätzbar sind. Wenn wir unser kollektives Gedächtnis nämlich irgendwo abspeichern, so zeigen wir dadurch mehr von uns als Individuum als uns vielleicht lieb ist. Und schnell wird aus einer Utopie eine Situation, die auf unheimliche Weise an Science Fiction Romane wie den erinnert, den ich gerade lese.

Es handelt sich dabei um Andreas Eschbachs Jugendbuch Black Out. Eine Gruppe von Menschen hat darin einen Weg gefunden, Mikrochips in das menschliche Gehirn einzusetzen. Dieses kleine technische „Upgrade“ führt dazu, dass das Gehirn relativ schnell lernt, sich auf vielfältige Weise mit dem Chip zu verbinden. Diese Upgrader können jederzeit und instantan auf das Internet und damit den Speicher des kollektiven Gedächtnisses zugreifen. Aber die Lernfähigkeit des Gehirns ermöglicht noch mehr. Über die Chips und deren Kopplung an ein spezifisches Gehirn ist dieses plötzlich mit allen anderen Gehirn-Chip-Kopplungen verbunden. Jeder Chipträger weiß alles vom anderen Chipträger und, was noch viel besser ist, er weiß alles, was der andere je wusste. Da er die Gedanken der anderen kennt, gibt es keine Differenzen mehr, denn durch die Vernetzung sind die Gehirne wie eines, was der andere denkt, denkt man auch selbst. Ohne Differenzen aber gibt es auch nicht mehr die kleinen Unterschiede, die normalerweise dazu führen, dass wir über Situationen lachen oder streiten können.

Und so kommen wir zurück zur Grundidee des kollektiven Gedächtnisses als Weltformel und der momentanen Situation des Abhörskandals der NSA. Eschbach zeigt auf spannende Weise wie aus der Utopie eine Dystopie werden kann. Der NSA-Skandal hat uns in der Realität ebenso gezeigt, wie gefährlich unser Wunsch nach Vernetzung sein kann. Wenn wir alles, was wir denken festhalten und irgendwo in einer Cloud speichern, so sind unsere Gedanken plötzlich frei zugänglich und es gibt keine Geheimnisse mehr.

Fast keine, denn auch das erzählt uns Eschbach in seinem Roman, dass Geheimnisse immer eine Frage der Abgrenzung sind. Solange unsere Gehirne nicht miteinander kurzgeschlossen sind, bleiben die Gedanken frei, wenn wir sie frei behalten möchten. Nicht alles muss gespeichert, geteilt und dadurch öffentlich gemacht werden. Und selbst wenn wir alle miteinander verbunden wären, so bleibt unser Gehirn lernfähig. Selbst mit einem Chip im Kopf ist es möglich, so wie Eschbachs Protagonist es schafft, die Verbindung zu umgehen, wenn man es denn möchte. Doch es hat mich nicht nur fasziniert, wie klar Eschbach die Abgründe der Vernetzung schildert, die der Abhörskandal aufs Neue zu Tage gefördert hat, sondern auch wie deutlich er zeigt, dass man in fiktiven, möglichen Welten die Pros und Contras aktueller Entwicklungen durchspielen kann. Das Internet mag vielleicht unser kollektives Gedächtnis sein, aber die Literatur kann uns kollektive Visionen schenken – positive und negative.

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Über fruehstuecksflocke

Tätig als Studiosus, Autor, Blogger, Leser; außerdem Zusatzqualifikationen: Zitatesammler, Schwammaufsauger von jeglicher Nichtigkeit und leidenschaftlicher Verlierer beim Schachspiel.
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