Es muss nicht immer gleich eine ganze Welt sein, manchmal reichen einzelne Orte, um den Eindruck einer ganzen Welt zu erwecken. Dazu gibt es im Grunde genommen zwei Möglichkeiten – entweder sind die Orte geheim oder nur für Wesen mit bestimmten Fähigkeiten zugänglich.
Fiktive Orte – mitten unter uns?
Je weiter eine Geschichte in der Vergangenheit spielt, desto leichter ist es, geheime Orte in der Realität einzubauen. Sie reichen von geheimen Höhlen bis hin zu ganzen Städten unter der Erde.
In „Die sieben unterirdischen Könige“ von Wolkow (dritter Band der Smaragdenstadt-Reihe) gelangt Elli beispielsweise ohne magische Mittel in das Erzland unter dem Zauberland – indem sie dem unterirdischen Fluss in einer Höhle in Kansas folgt. Im Grunde genommen befindet sich hier also der magische Ort räumlich nicht weit weg und somit nicht direkt außerhalb der realen Welt (kann jedoch trotzdem nur von Kindern erreicht werden).
Wesentlich leichter ist es, geheime Räume in ein Haus einzubauen – oder Geheimgänge zu verborgenen Häusern einzubauen, denn dass ein fiktiver Raum oder ein fiktives Haus innerhalb einer Stadtstruktur auffällt, ist unwahrscheinlicher als bei einem ganzen Land.
Dies ist der Fall bei der Indie-Autorin Laura Jane Arnold, die für ihre Seelensehertrilogie das fiktive Land Alanien zwischen die Schweiz und Italien gelegt hat. Sie erklärt, dass niemand von diesem Land weiß, da dort eine starke Magie wohnt und diese von den magischen Orden vor allzu neugierigen und machthungrigen Augen geschützt werden muss. Ein bekannteres Beispiel für ein fiktives Land ist Genovia – der Zwergenstaat aus „Plötzlich Prinzessin“, als dessen Thronerbin sich Mia auf einmal wiederfindet. Der Grund, warum man einen ganzen fiktiven Staat in eine ganz normale Welt einbauen kann? Er ist sehr klein und außenpolitisch irrelevant.
Zwar nicht gleich einen Staat, aber eine ganze fiktive Insel stellte Anne Rice direkt vor Miami hin – die „Night Island“ ist ein Ort, an dem Vampire sich unter vergnügungslustigen Menschen bewegen können. Sie besteht größtenteils aus fünfstöckigen, verglasten Shoppingcentren, Kinos und Luxusboutiquen, gläserne Rolltreppen und silberne Fahrstühle bringen die Besucher von A nach B auf einer Insel, die man von Miami aus mit dem Boot erreichen kann und die nur zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang „offen“ hat. Zusätzlich hat Armand – der Erfinder des Ganzen – etwas abseits der Shoppingmeile eine private Villa hingesetzt. Die ist mit allem ausgestattet, was das Vampirherz begehrt – wertvolle und schöne Antiquitäten, wunderbare Meerblicke… und natürlich eine Geheimtür zu einem Schlafraum mit Särgen.
In Marion Zimmer-Bradleys Buchreihe rund um Atlantis wurde das Problem etwas anders gelöst – der fiktive Kontinent, dessen Hauptstadt Atlantis ist, fällt im Laufe des Romans einem Vulkanausbruch zum Opfer und die ganze magisch-priesterliche Hochkultur versinkt Jahrtausende vor unserer Zeitrechnung spurlos im Meer. Die alten Überlieferungen aber verbinden sich mit den Mythen des Landes, in dem die Atlanter Zuflucht suchen und bilden eine Basis der Religion in den Avalon-Romanen.
Fiktive Orte – geschlossene Gesellschaft!
An andere Orte kann man als normaler Sterblicher nicht gelangen – selbst wenn man zufällig reinstolpern sollte.
Ein besonders prominentes Beispiel sind die meisten fiktiven Orte in „Harry Potter“ – man kann die magischen Orte nur sehen, wenn magisches Blut in den Adern fließt (unabhängig davon, ob man magische Vorfahren hatte oder nicht ;-) ) – Harry bemerkt schon in Band eins, dass die Muggel einfach am Tropfenden Kessel vorbeizuschauen scheinen, ohne zu bemerken, dass sich in dessen Hinterhof hinter der Mülltonne der Eingang zur Winkelgasse befindet. Manchmal sind sie auch so versteckt, dass ein Außenstehender einfach nicht auf die Idee kommen würde, dort zu suchen. Um beispielsweise ins Zaubereiministerium zu gelangen, muss man in einer ganz bestimmten Telefonzelle eine ganz bestimmte Nummer wählen. Oder sich in einer bestimmten Toilette runterspülen. Auch würde niemand auf die Idee kommen, die Schaufensterpuppe in einem permanent geschlossenen Kleidergeschäft anzusprechen, der nicht weiß, dass hinter der Fassade ein Krankenhaus ist. Selbst Hogwarts ist für die Muggel nur eine Schlossruine mit der Aufschrift „Einsturzgefährdet“.
Auch in der Avalon-Reihe von Marion Zimmer-Bradley gibt es Orte, die nicht für jeden und jede zugänglich sind – um die Ringsteine auf dem Hügel und die alte Kirche von Glastonbury vor fanatischen Mönchen zu retten, die diese Orte zerstören wollen, entrückte eine Priesterin Avalon und die alte Kirche aus der Welt der Menschen. Mit weitreichenden Folgen, denn im Laufe der Buchreihe trennen sich die Welt von Avalon und die reale Welt immer stärker von einander. Um nach Avalon zu gelangen, muss man den Weg über den Sumpf kennen oder von einer Barke über das Wasser gebracht werden. Und man muss zur rechten Zeit das Wort der Macht sprechen – sonst landet man nicht auf Avalon oder Ynis Witrin, sondern auf der Insel der Priester. Doch nur wer in Avalon oder an einem ähnlichen Ort in die Mysterien eingeweiht wurde und an sie glaubt, außerdem eine gewisse hellseherische Veranlagung hat, findet tatsächlich hin.
Fazit
Es muss nicht einmal zwingend Fantasy sein – doch wer auch nur einen geheimen Besenschrank in die reale Welt eingebaut hat und dabei auf eine alternative Welt (wie das fiktive England in der Barthimäus-Reihe) verzichten möchte, muss sich vor allem zwei Dinge gut überlegen: Wie baut man den fiktiven Ort ein und wieso zum Kuckuck hat noch niemand diesen Ort bemerkt?
Beide Fragen müssen gut und sinnvoll beantwortet werden können, damit eine Geschichte glaubwürdig ist.
Welche weiteren Geschichten kennt ihr, bei denen fiktive Orte innerhalb der Erde eine Rolle spielen? Schreibt ihr selbst solche Geschichten? Wie begründet ihr eure geheimen Orte?
Pingback: Fantasie und Realität … | ben schreibt
Wenn ich mich recht erinnere, hat James A. Michener für seine „Sternenjäger“ den USA einen zusätzlichen Zwergbundesstaat verpasst. Wahrscheinlich, da er zeitgeschichtliche Ereignisse verwurstet hat und niemandem auf die Füße treten wollte. Nach einer kurzen Sekunde von, „Äh, das ist aber nicht auf der Landkarte“ ließ sich bequem drüber hinweglesen.
Andere Option, die mein Kollege Rainer Würth für seine Krimis gewählt hat: einfach den Namen der Stadt niemals erwähnen.
Ansonsten: schöne Zusammenfassung des Problems.
Danke für den Kommentar – ja, gerade wenn man über Zeitgenössiges schreibt, aber keinen Sturm der Entrüstung über sich ergehen lassen will, kann es ein praktischer Weg sein, einen Staat einzubauen :). Die „Sternenjäger“ kenne ich persönlich nicht, schaue ich mir aber mal an.
Der anonymen Stadt müsste man einen eigenen Artikel widmen, darum habe ich das bewusst ausgeklammert. Es gibt einfach zu viele Gründe und zu viele Dinge die man damit literaturtechnisch anstellen kann. Mir fallen auf Anhieb mehrere Bücher ein, in denen der Ortsname unerwähnt bleibt („Das Schloss“, „Momo“, meist mit sehr metaphorischem Charakter) Auf jeden Fall ein spannendes Thema.
Danke für den Kommentar! :)
Oder das, was die alten deutschen Klassiker oft machen – die schreiben oft nur den ersten Buchstaben hin, gefolgt von ein paar Punkten, und lassen so den Ort unerwähnt.
Ich habe sie nie zu Ende gelesen (sollte ich mal, nach all den Jahren…) und meine Erinnerung ist zugegeben etwas schwammig, aber in ihrer Chroniken-der-Unterwelt-Reihe hat Cassandra Clare, wenn ich mich recht erinnere, auch einen Zwergenstaat zwischen die deutsche und französische Grenze gesetzt – und irgendwie mit Magie argumentiert, dass Otto Normalsterblicher den Staat nicht bemerkt hat…
Magie ist immer eine nette Erklärung für alles, fürchte ich ^^. Besonders in der Fantasyliteratur. Wenn etwas komisch ist, dann oft „because magic“ statt „because reasons“ :).
Wahre Worte.