Wir wären ja nicht wir, wenn wir eine eben begonnene Serie wie die über Brot und Spiele sofort fortsetzen würden. Deshalb schweifen wir lieber ab und widmen uns erneut unseren Meerwesen. Die Stars des heutigen Artikels: Die Sirenen.
Sie sind wohl zugleich die berühmtesten, als auch gefährlichsten Wesen der Meere, die uns heutzutage bekannt sind. Tausenfach kopiert, tausendfach in Film, Spiel und Buch verwurstet. So wird es Zeit, uns ihre Schilderung bei Homer genauer anzusehen.
Aussehen
Wenn wir an Sirenen denken, haben wir alle sofort das klassische Bild vor Augen: Schöne Frauen, die auf Felsen sitzen, auf Harfen oder anderen Saiteninstrumenten klimpern, den vorbeisegelnden Seefahrern schöne Augen machen und sie mit ihrem Gesang aus den Booten zu ihnen locken.
Leider nur beschreibt uns Homer in der Odyssee die Sirenen gar nicht – und dementsprechend unklar ist unser Bild von den Sirenen. Während Homer sie nämlich gar nicht beschreibt, sind die Griechen nach ihm erstaunlich erfindungsreich und das Sirenenbild erweist sich als sehr wandelbar.

„Sirena de Canosa“ im National Archaeological Museum of Spain – Foto von Luis García [CC-BY-SA-3.0-2.5-2.0-1.0], via Wikimedia Commons
Wieso genau die werten Damen geflügelt sind, ist aber unklar – hier gibt es verschiedene Varianten. Erneut schweigt Homer sich darüber aus. Ovid berichtet, dass sie ursprünglich Gefährtinnen der Persephone waren. Als Hades diese entführte, ersuchten sie die Götter um Flügel, um Persephone überall suchen zu können.
Nach Hygin hingegen ließen die Sirenen zu, dass Persephone entführt wurden, und wurden dann zur Strafe von Demeter in geflügelte Wesen verwandelt.
Kräfte
Zumindest was die Sirenen können – außer fliegen – verrät uns Homer. Als Odysseus von Kirke aufbricht und seine Irrfahrt nach Hause fortsetzt, warnt sie ihn vor den Sirenen (hier in der Übersetzung von Johann Heinrich Voß, 1781):
Erstlich erreichet dein Schiff die Sirenen; diese bezaubern
Alle sterblichen Menschen, wer ihre Wohnung berühret.
Welcher mit törichtem Herzen hinanfährt, und der Sirenen
Stimme lauscht, dem wird zu Hause nimmer die Gattin
Und unmündige Kinder mit freudigem Gruße begegnen;
Denn es bezaubert ihn der helle Gesang der Sirenen,
Die auf der Wiese sitzen, von aufgehäuftem Gebeine
Modernder Menschen umringt und ausgetrockneten Häuten.
Aber du steure vorbei, und verkleibe die Ohren der Freunde
Mit dem geschmolzenen Wachse der Honigscheiben, daß niemand
Von den andern sie höre. Doch willst du selber sie hören;
Siehe dann binde man dich an Händen und Füßen im Schiffe,
Aufrecht stehend am Maste, mit festumschlungenen Seilen:
Daß du den holden Gesang der zwo Sirenen vernehmest.
Flehst du die Freunde nun an, und befiehlst die Seile zu lösen;
Eilend feßle man dich mit mehreren Banden noch stärker!
Zwar stimmt unser heutiges Bild von der Gestalt nicht, doch wenigstens die Sache mit dem Gesang ist verbürgt. Nicht nur schön ist er, auch sein Inhalt ist verlockend – denn die allwissend Sirenen versprechen dem unschuldigen Seefahrer, ihn an ihrem Wissen teilhaben zu lassen:
Komm, besungner Odysseus, du großer Ruhm der Achaier!
Lenke dein Schiff ans Land, und horche unserer Stimme.
Denn hier steurte noch keiner im schwarzen Schiffe vorüber,
Eh‘ er dem süßen Gesang aus unserem Munde gelauschet;
Und dann ging er von hinnen, vergnügt und weiser wie vormals.
Uns ist alles bekannt, was ihr Argeier und Troer
Durch der Götter Verhängnis in Trojas Fluren geduldet:
Alles, was irgend geschieht auf der lebenschenkenden Erde!
Was genau aber machen die Sirenen mit den Männern, die zu ihnen kommen? Als Kirke Odysseus warnt, erzählt sie von aufgehäuften Gebeinen rund um die holden Damen und ausgetrockneten Häuten. Werden die Männer von den Sirenen ausgesaugt? Gefressen? Oder spielen sie mit ihnen und erzählen ihnen so viele Neuigkeiten, dass sie sich selbst, die Zeit, das Essen und Trinken vergessen und elend zugrunde gehen? Auch hierzu sagt uns Homer leider nichts – und auch spätere Autoren schweigen darüber.
Schwachstellen
Die offensichtlichste aller Schwachstellen: Man stopfe sich Wachs (oder Petersilie?) in die Ohren und schon bleibt man vom Gesang verschont. Allzu neugierige Personen mögen sich auch einfach festbinden, um nicht in Versuchung zu geraten, hinüberzuschwimmen.
Laut Hygin sollen die Sirenen sogar nur so lange leben können, wie es ihnen gelingt, jeden vorbeifahrenden Seemann zu verführen. Als Odysseus ihnen entgeht, stürzen sich die Sirenen ins Meer und sterben. Nach anderen Quellen sind aber die schon früher vorbeifahrenden Argonauten schuld, dass die Sirenen sterben – was die Frage aufwirft, ob sie erst noch warteten, bis Jahre später Odysseus auch vorbeikommt, oder ob das wiederum neue Sirenen sind, die Odysseus verlocken…. ganz zu schweigen davon, dass später der ebenfalls sich auf einer Irrfahrt befindende Aeneas auch noch vorbeikommt … ich denke, man merkt daran bereits, wie kompliziert sich Mythenüberlieferungen gestalten können und wollen das an dieser Stelle nicht mehr weiter vertiefen.
Fazit
Homers Sirenen sind die klassischen Vorgänger der Meerjungfrauen – aber wer hätte gedacht, dass aus „Halb Mensch, halb“ Vogel eines Tages in der Populärkultur „Halb Mensch, halb Fisch“ werden könnte? (man denke etwa an die Pseydo-Meerjungfrauen/-Sirenen aus Fluch der Karibik…)
Es möge uns dies ein mahnendes Beispiel für den alles verändernden Zahn der Zeit sein und dafür, wie bereits vor über 2000 Jahren Autoren sich nicht an eine einzige Version hielten, sondern munter vor sich hin dichteten, hier ein Konzept aufgreifend, hier ein Konzept ändernd, hier ein Konzept erfindend….
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