Fallstudie: Vampire in verschiedenen Canons – Teil 9 – die Vampire aus „Anno Dracula“

Was wäre, wenn Dracula nicht von Van Helsing besiegt worden wäre und die Herrschaft im viktorianischen England an sich gerissen hätte? Dies beschreibt Kim Newman in „Anno Dracula“.
Doch das heißt nicht zwingend, dass er auch sämtliche weltenbaulichen Fakten aus dem Stoker-Universum übernommen hätte – sein Buch variiert das Dracula-Thema und verändert es für moderne Leser.
Wie also aktualisiert man einen Klassiker?

Optik:

Kaum ein Vampir sieht so aus wie der Mensch vorher.
Ihre Augen nehmen eine rote Farbe an und oftmals verändert sich ihre Gestalt gleich nach der Verwandlung. Bei Einigen sind die Anlagen zum Gestaltenwandel so stark, dass sie sich nicht zurückhalten können – so verwandelt sich der Arm des Vampirkindes Lily Mylett in einen Fledermausflüge, doch da sie den Wandel nicht kontrollieren kann und das verwandelte Gewebe abstirbt, überlebt Lily die Verwandlung nicht.
Anderen – so der Prostituierten Nell – wachsen am ganzen Körper Haare.
Während einige Vampire vergleichsweise normal aussehen, sehen einige somit völlig verändert aus und wirken absonderlich, befremdlich oder abstoßend auf andere Wesen.
Außerdem werden die Vampire im Laufe der Zeit denen, die sie geschaffen haben, ähnlicher – aus diesem Grunde sieht Mary Jean Kelly der toten Lucy Westenra auffällig ähnlich.
Bei Dracula selbst ist der Hang zur Gestaltwandlung so stark, dass er nicht in der Lage ist, Kleidung zu tragen – das Gewebe würde die permanenten Veränderungen seiner Gestalt nicht aushalten.

Fähigkeiten:

Die Fähigkeiten der Vampire hängen von ihren „Vätern“ oder „Müttern in Finsternis“ ab – denn mit dem Blut werden auch ihre Fähigkeiten übertragen.
Die Abkömmlinge von Dracula selbst haben dabei oft in gewissem Umfang seine Fähigkeit, ihre Gestalt zu verändern. Andere Vampire sind empathisch, können Gedanken oder andere Dinge erspüren.
Arthur Godalming kann als Vampir Menschen betören und sie dazu bringen, sich seinem Willen entsprechend zu verhalten.
Manche können sich komplett in Tiere verwandeln. Andere können sich knöcherne Waffen wachsen lassen.
Allen gemeinsam ist die schnelle Regeneration bei Verletzungen, eine hohe Körperkraft und Schnelligkeit und die Fähigkeit, sich Klauen und Zähne für einen Angriff wachsen zu lassen.

Verwandlung:

Bereits der Biss eines Vampirs ruft gewisse Veränderungen in einem Menschen hervor – ein Mensch kann süchtig danach werden, gebissen zu werden und fühlt sich zu seinem Beißer auf erotische Weise hingezogen. Allerdings reicht ein bloßer Biss nicht für eine komplette Verwandlung.
Wichtig dafür ist auch, dass der Vampir etwas Blut vom zu Verwandelnden trinkt und anschließend den Menschen trinken lässt.
Bei der Verwandlung durchläuft der Mensch furchtbare Schmerzen und „stirbt“ sozusagen – dabei gibt er sämtliche Körperflüssigkeiten von sich, was für den Betroffenen sehr unangenehm werden kann.
Ist das Blut jedoch irgendwie verseucht, ist so eine Verwandlung kein Garant auf ewiges Leben. Auch Krankheiten, an denen der Mensch vor der Verwandlung gelitten hat, können sich verschärfen und somit das Leben nach der Verwandlung zur Qual machen.

Eigentlich herrscht ein Ehrenkodex, der vorsieht, dass „Väter in Finsternis“ während der Verwandlung bei ihrem Spross bleiben und Verantwortung für diesen übernehmen. Jedoch bieten viele Prostituierte das Ewige Leben gegen eine geringe Anzahl an Münzen feil, sodass theoretisch jeder Londoner ein Vampir werden kann.
Allerdings ist der qualitative Wert dieser Verwandlung nicht besonders gut.

Frischverwandelte, geckenhafte Vampire nennt man in dieser Romanwelt übrigens „Murgatroyds“ – nach der gleichnamigen Familie aus der britischen Operette „Ruddygore“.

Vernichtung:

Silber ist für Vampire giftig – ein Messerstich mit einer versilberten Klinge, ein Schuss mit Silberkugeln ins Herz, all das ist für den Vampir tödlich. Darum mordet Jack Seward seine Vampiropfer auch mit einem versilberten Skalpell – Wunden, die von einer normalen Stahlwaffe beigebracht werden, verheilen sofort.
Sie überleben es außerdem nicht, den Kopf abgeschnitten zu bekommen, gepfählt oder in die Luft gejagt zu werden.

Wird verletzt durch:

Eisen hinterlässt keine bleibenden Verletzungen – Silber dagegen schon.
Deswegen gilt Silber als Gift, ist schwer zu bekommen und man muss sich ins Gifteregister eintragen, wenn man Silber besitzt.
Wenn einem Vampir mit einer Silberkugel ins Bein geschossen wird, die Splitter jedoch nicht vollständig entfernt werden können, kann ein Vampir sein Bein verlieren.
Eine Vergiftung durch Silber ist für den Vampir mit großen Schmerzen verbunden.

Kreuze, Knoblauch und andere althergebrachten Vampirbekämpfungsmittel allerdings funktionieren eigentlich nicht – es gibt jedoch Vampire, die selbst daran glauben. Hält man diesen Vampiren ein Kreuz entgegen, weichen sie zurück. Andere Vampire haben für Kreuze nur ein müdes Lächeln übrig und die vielen Vampirdandys und deren Gefährtinnen tragen sogar oftmals kreuzförmigen Schmuck, um sich über die Ängste ihrer Macher lustig zu machen.

Bedürfnisse:

Blut – nur Menschenblut bringt wirklich Erleichterung, in Bars werden aber auch Schweine angezapft und deren Blut bringt vorübergehende Linderung.
Das führt zu bedenklichen gesellschaftlichen Auswüchsen – so gibt es Kupplerinnen, die gegen Geld Vampire das Blut ihrer oder fremder Kinder trinken lassen, diese Kinder dabei jedoch in strenger Gefangenschaft halten, bis die Kinder sterben.
Auch Vampirprostituierte lassen sich teilweise nicht mit Geld, sondern mit einer bestimmten Menge Blut bezahlen, die sie dem „Kunden“ abzapfen dürfen.
Der Handel mit Blut blüht – genauso wie der Handel mit dem zweiten Bedürfnis vieler Vampire, nämlich Sex.
Die Vampire von Newman sind dazu nicht nur in der Lage, sondern mit großen Freuden dabei – bis hin zu dekadenten Auswüchsen: Ein Vampir wird im Roman dabei erwischt, wie er in seiner Schlangengestalt mit zwei kleinen Jungen schläft.

Herkunft:

Ähnlich wie in „Dracula“ wird dieses Rätsel hier nicht gelöst:  Dracula und einige seiner Karpaten werden mehr oder weniger zufällig von irgendwelchen Vampiren auf dem Schlachtfeld verwandelt. Sie können sich jedoch nicht an einen konkreten Schöpfer erinnern.
Dracula ist dabei keineswegs der älteste bekannte Vampir – Geneviève ist fünfzig Jahre älter als er und wurde von einem Vampir namens Chandagnac erschaffen. Der widerum von einer Lady Melissa d’Acques erschaffen wurde, einer Kindsfrau, deren Erschaffer nicht erwähnt wird.

Weltenbauerisches Fazit:

Man muss gut aufpassen, wenn man bereits vorhandene Konzepte verwenden und gleichzeitig die eigene Fantasie frei fließen lassen möchte. Schnell kann das ins Auge gehen – entweder enthält das Konzept dann viel zu wenige eigene Elemente oder ist so weit weg vom Original, dass man das Konzept nicht mehr wiedererkennt und kein ernsthafter Fan die Neufassung akzeptiert.

In „Anno Dracula“ erfolgt das Modernisieren auf eine Art, die jeden Liebhaber der viktorianischen Literatur zufriedenstellen dürfte – während gleichzeitig auch die Fans von Horrorvampiren à la Dracula auf ihre Kosten kommen.

Newman fügt seine eigene Figur Geneviève nahtlos in ein Kaleidoskop aus zahlreichen, bunten Gestalten ein und verwebt das Ganze zu einer Welt, die ganz und gar viktorianisch ist.

Somit ist „Anno Dracula“ ein Paradebeispiel für die Modernisierung eines klassischen Romankonzeptes.

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Über Katherina Ushachov

Lektoriert, liest alpha, beta, gamma und omega. Administriert Foren, entdeckt beim Schreiben und schafft dabei Trilogien in neun Bänden. Dichtet.
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4 Antworten zu Fallstudie: Vampire in verschiedenen Canons – Teil 9 – die Vampire aus „Anno Dracula“

  1. Carmilla DeWinter schreibt:

    Interessante Sache, den Text muss ich mir mal anschauen.
    Das Problem mit der Integration von „Kanon“ und eigenem Material ist mir aus der Fanfiction hinreichend bekannt, meistens habe ich halt das Problem, dass ich mir zu gerne Zeugs ausdenke …

    • Evanesca Feuerblut schreibt:

      „Anno Dracula“ ist auf Deutsch bei Heyne erschienen, wird aber scheinbar dort nicht mehr herausgegeben. Aber irgendwo ist der Text bestimmt noch zu bekommen.
      Stimmt, ich hatte die ganze Zeit beim Schreiben das Gefühl, dass mir das Problem bekannt vorkommt. Aber jetzt, wo du es sagst… :D
      Und ich fasse mir was Fanfiction angeht, an die eigene Nase. Habe für meine Geschichten so viel hinzugefügt, dass diese alternative Welt – losgelöst vom Fandom – nun die Basis meiner Romanwelten ist :D

      • Carmilla DeWinter schreibt:

        Ja… wem erzählst du das? Hab schon zwei Romanwelten nach Fanfics gebaut, und eine ist sogar gedruckt. An der anderen feile ich noch.
        Abgesehen davon lese ich a) gern und viel Englisch und b) besitze einen Reader, die Beschaffung von Texten gestaltet sich also recht leicht, das Problem ist daher grundsätzlich die Auswahl.

      • Evanesca Feuerblut schreibt:

        Willkommen im Club in dem Fall *-*
        (Was mich daran erinnert, dass ich mir schon ewig dein Buch zulegen will. Sollte ich endlich mal tun.)
        Dann viel Erfolg bei der Suche, das sind super Voraussetzungen.

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