Wer die Vampirchroniken von Anne Rice kennt, weiß, dass dort nicht nur die namensgebenden Vampire eine große Rolle spielen – schließlich leitet sich deren Entstehungsgeschichte von einem Geist namens Amel ab. In späteren Bänden wird das ganze Konzept von Geistern, Seelen aber auch Geschöpfen wie Engeln weiter ausgebaut und in das allgemeine Vampirkonzept integriert.
Doch je mehr Wesenheiten und Konzepte ein Roman enthält – und je mehr davon gerade bei einer Serie im Laufe der Folgebände hinzugefügt wird – desto mehr Probleme gibt es, das Ganze sinnvoll zu erweitern. Diese Problematik sieht man auch in den „Vampirchroniken“.
Sind alle Seelen Geister und alle Geister Seelen?
Es gibt durchaus einen Unterschied zwischen Geist und Seele. So besteht eine Seele bei Anne Rice im Prinzip aus zwei Teilen – dem physischen Teil, der im Körper verankert ist und mit diesem stirbt und einem unsterblichen Teil, der sich vom physischen Teil lösen kann.
Auf diese Weise sind auch Astralreisen möglich – der unsterliche Teil der Seele reißt sich los, denn theoretisch kann er immer wieder am physischen Seelenteil andocken.
Nach dem Tod löst sich der unsterbliche Teil der Seele von der physischen Seele und wandert umher.
Dieser Dualismus der Seele macht die Ereignisse in „Nachtmahr“ möglich – der Körperdieb ist in der Lage, den unsterblichen Teil der Seele vom Körper dessen zu lösen, dem der Körper gehört und seinerseits den Körper in Besitz zu nehmen. Außerdem kann man die Fähigkeiten zur Astralreise trainieren und bewusst ausüben, auch wenn man nicht mit dem natürlichen Talent von Raglan James gesegnet sein sollte.Bei Anne Rice haben übrigens nur Menschen eine solche dualistische Seele – Tiere haben nur den „Lebensfunken“, also jenen Seelenteil, der physisch ist. Gott und die Engel haben gar keine menschliche Seele, sondern etwas, das im Roman nicht näher definiert wird.
Werden alle Seelen zu Geistern?
Ganz so einfach ist es nicht.
Einige Seelen verlöschen und sind fort, niemand weiß, was genau mit ihnen passiert. Andere Seelen widerum bleiben schwach und verwirrt – sie nehmen sich nicht als geistig, sondern als körperlich wahr und können nicht verstehen, dass sie gestorben sind. Bei ihren Versuchen, sich bemerkbar zu machen, besetzen sie Menschen und Dinge oder richten auf andere Weisen Schaden an. Sie verhalten sich sozusagen wie „Poltergeister“.
Mächtige Seelen können zu gut- oder bösartigen Dämonen werden. Amel ist ein Beispiel für einen solchen Dämon, der Macht erlangen konnte und im Bewusstsein seiner/ihrer Eigenschaften als Geist bewusst nach Einfluss strebt.
Mächtige Candomblé-Priester sind in der Lage, Poltergeister und andere niedere Dämonen ihrem Willen zu unterwerfen. In der Romanreihe gehören dazu David Talbot, der sich in Brasilien entsprechend ausbilden lässt. Auch Merrick Mayfair besitzt entsprechende Macht.
Scheol
Ursprünglich gab es keinen Ort, an den die Seelen oder Geister gehen konnten. Diejenigen, die sich nicht auf der Erde herumgetrieben haben, sammelten sich also in einer Schicht zwischen dem (metaphorischen) Himmel und der Erde.
Innerhalb dieser Geister bildeten sich bald Gruppen und Hierarchien heraus.
Erst später schafft Memnoch an dieser Stelle das Scheol – umgangssprachlich die Hölle – wo die Seelen genug lernen sollen, um in den Himmel aufsteigen zu können. Eine Voraussetzung, um in den Himmel zu gelangen, besteht darin, Gott zustimmen beziehungsweise vergeben zu können. Das ist eine interessante Sichtweise – nicht die Gottheit soll dem Toten vergeben, nein, der Tote soll in der Lage sein, der Gottheit zu vergeben, um am Himmel teilhaben zu können. Auch an dieser Version der Geschichte ist Einiges problematisch, da es nach wie vor das Primat des Christentums voraussetzt.Einige Geister gelangen sofort ins Scheol – andere dagegen können vorher noch Kontakt mit Lebenden aufnehmen. So ist Roger in der Lage, in letzter Sekunde mit Lestat zu kommunizieren und ihm seine Tochter Dora anzuvertrauen.
Widersprüche
Memnoch unterrichtet die Seelen im Scheol, indem er ihnen immer wieder aufzeigt, welche Fehler sie gemacht haben, damit sie einsichtig werden. Dabei muss er selbst nicht anwesend sein – überall gibt es Räume und Illusionen. Wofür also braucht Memnoch Lestat, wenn er genauso gut automatisch unterrichtet?
Wenn alle Seelen ins Scheol eingehen, wieso laufen dann immer noch so viele Geister frei herum? Fühlen sie keinen Bedarf, ins Scheol zu gehen? Müsste Memnoch sie händisch „holen“ und hat sie einfach übersehen?
Einige Geister im Scheol unterstützen Memnoch beim Unterrichten – wenn diese Geister aber selbst unterrichten können, wieso gehen sie nicht in den Himmel? Verzichten sie bewusst darauf? Können sie das also steuern? Oder sind sie selbst noch nicht so weit? Aber wieso können sie dann helfen?
Und vor allem – wie soll Scheol/die Hölle größer sein als der Himmel, wenn beide Orte unendlich groß sind? Kann etwas ein größeres Unendlich sein als etwas anderes?
Ein weiterer Widerspruch findet sich schon im Artikel zur Natur der Vampire. In Band drei heißt es, wie bereits erwähnt, dass Schamanen ihre Fähigkeiten im Umgang mit Geistern verlieren, sobald sie zu Vampiren werden. Sie können keine Geister sehen, keine Geister rufen, nicht mit Geistern sprechen. Dennoch kann Roger vor dem Gang ins Scheol mit Lestat kommunizieren. Mehr noch – als im Band „Merrick“ besagte Merrick für Louis den Geist von Claudia beschwört, kann er sie sehen und hören.
Weder Merrick noch David Talbot verlieren jedoch ihre parapsychologischen Fähigkeiten, nachdem sie verwandelt werden.
Weltenbauerisches Fazit
Ich werde das Gefühl nicht los, dass ein Großteil des Seelen- und Geisterkonzepts in den Vampirchroniken nachträglich auf die Geschichte aufgepropft wurde. Nur so kann der teilweise sehr starke Bruch zwischen den weltenbauerischen Konzepten erklärt werden. Auch wenn in „Nachtmahr“ teilweise bereits der Dualismus der menschlichen Seele und das Konzept der Astralreisen angedeutet wurde, wirkt das Konzept wie es besonders in „Memnoch der Teufel“ dargestellt wird, lückenhaft und widersprüchlich. Die gebaute Welt wirkt nicht mehr rund.
Allerdings wird in den Folgebänden alles, was in „Memnoch“ geschah, grundsätzlich neutralisiert, indem behauptet wird, dass ein Teil der „historischen“ Ereignisse, an denen Memnoch Lestat teilhaben ließ, nie stattgefunden haben sondern auf späterer christlicher Legendenbildung basierten. Aber auch dieser Ansatz widerspricht sich selbst – wenn die Geschichte von Veronika und ihrem Schleier fiktiv war und so nicht stattgefunden hat, was bitte hat Lestat dann eigentlich aus der (fiktiven?) Vergangenheit mitgebracht und wieso hat es so große Macht?
Der Leser bleibt ratlos zurück – und es ist nicht verwunderlich, dass die christlichen Motive in dieser Stärke nur noch in „Vittorio“ aufgegriffen werden.
Eh, ja, das war für mich ein Grund, die Reihe nach Memnoch aufzugeben. Soweit ich das mit der Hölle allerdings verstanden hatte, ging es da weniger darum, Gott zu vergeben, sondern sich selbst und denjenigen, die einem im Leben schlechtes getan haben.
Was ich wiederum noch interessanter fände als das Konzept, Gott zu vergeben.
Ich habe die Reihe nach „Memnoch“ ungefähr 10 Jahre nicht in der Hand gehalten, aber neulich fast die ganze Reihe günstig erworben und wollte u.a. auch diesem Buch eine Chance geben. Man ist als Teenie ja noch etwas unreif und ich war mir sicher, aus Twen-Sicht anders zu bewerten.
Aber die Logiklücke ist immer noch da ^_^.
Du hast Recht – sich selbst vergeben war auch Teil des Höllenkonzepts. Danke für die Anmerkung!